Montag, 5. Oktober 2009

Aus der bulgarischen Provinz an den Bosporus

Viel ist passiert, seit wir das letzte Mal über unserer Reise geschrieben haben. Heute sind wir schon den sechsten Tag in der türkischen Metropole und nächste Woche um die gleiche Zeit schon wieder zurück in Berlin. Die Reise ist jetzt einigermaßen verarbeitet und es hat ein neuer Abschnitt begonnen. Die Zeit fliegt an einem vorbei und Dinge, die man vor nicht einmal zwei Wochen erlebt hat, wirken wie aus einer alten Reise. Ganz zu schweigen von Dingen, die wir zu Anfang der Reise in Tschechien oder Ungarn gesehen haben. Das sind nun wirklich Erinnerungen einer lange vergangenen Reise. Kaum vorstellbar, wie es ist, ein ganzes Jahr mit dem Fahrrad unterwegs zu sein...
(ein kleiner Zeitsprung zurück zum 22.9.09...)
Die drei Radreisenden finden am Bahnhof von Nis, Südserbien, wieder zusammen. Auf die Frage, was es in Nis zu sehen gebe, antwortete die Touristeninformation nur knurrig und wortkarg: "There are no tourist attraction!" Wichtig, dass es für solche Auskünfte eine Touristeninformation gibt!
Vollkommen gegensätzliche Dinge hatten wir erlebt. Ich hatte mich gerade erst den urbanen Reizen hingegeben, mit allem was dazugehört. Leon und Pascal dagegen erzählten mir Geschichten von Zigeunerkindern, toten Tieren auf der Straße und Molkereien in der südserbischen Provinz.
In Nis haben wir alles erlebt, was uns die Touristeninformation ans Herz gelegt hat (nichts) und sind am nächsten Morgen zurück auf die Räder in Richtung bulgarische Grenze. Sehr wenig Hoffnung hatte ich anfangs noch, dass wir die türkische Metropole auf den Rädern gemeinsam erreichen würden. Aber irgendwie sollte es anders kommen...
Wie die Straße von Nis verläuft, kann man schön in unserem Video sehen. Wir haben alles überlebt und sind danach wieder auf weniger aufregenden Abschnitten weiter gefahren. Der Weg führte uns durch Zigeunerdörfer, vorbei an staunenden und neugierigen Kindern sowie am ersten Abend nach Pirot. Eine Stadt, irgendwie gebeutelt vom Zusammenbruch des Sozialismus und was auch immer noch dazu. Wahrscheinlich ist, dass es einmal bessere Zeiten gegeben hat in diesem Ort. Dass er einmal wirklich prosperierte, mag ich trotzdem nicht glauben. Die Stadt war unheimlich, mit schrägen Gestalten, die dem Alkohol etwas zu angetan waren, und einem Geisterhotel, dass aus irgendeinem Grund keine Zimmer frei hatte. Woanders bekamen wir doch noch ein Bett und konnten so am Abend per Public Viewing auf dem kommunistischen Hauptplatz das Basketballfinale zwischen Spanien und Serbien verfolgen. Die erhoffte Euphorie blieb angesichts klarer Verhältnisse leider aus...
Unsere nächste Station war Dimitrovgrad. "Wer würde sich nicht gerne einmal die Haare in Dimitrovgrad schneiden?" dachten wir uns jedenfalls und taten genau jenes (für jeweils schlappe 1,50 Euro). Wie das aussieht, könnte ihr auf den Fotos sehen. Fortan waren wir also als drei Eierköpfe (oder auch Fahrrad-Bundeswehr-Brigade???) unterwegs...
Bulgarien?
Genauso wie Serbien für uns nach Schurkenstaat klang, hörte sich Bulgarien irgendwie nach Folklore an (und wurde von uns auch gerne mal mit Ungarn verwechselt). Ersteres trifft die Wahrheit gar nicht, letzteres erst nach einer Weile fernab der Hauptstraßen. Nirgendwo auf der Reise haben wir so viele Plattenbauten gesehen. Eine Stadt kann noch so einen schönen Kern haben, um reinzukommen, wird man wird erst eine sozialistische Peripherie passieren müssen. Sofia ist in dieser Hinsicht sicherlich am beeindruckendsten. Hier sieht man die hohe Betonplatte bereits 40 km davor (und kurz hinter der bulgarisch-serbischen Grenze). Viel mehr hat Sofia, außer einer kleinen künstlerischen Szene, für den Touristen auch nicht zu bieten. Da wir zeitlich gut im Rennen waren und uns die bulgarischen Schnellstraßen wenig begeisterten (meiner Meinung nach die schlechtesten oder zumindest die waghalsigsten Autofahrer auf der Reise), wählten wir einen Umweg durch die Provinz und die Berge. Gerade letzteres war für mich eine Art Ersatz für die verpassten bosnischen und serbischen Berge.
Wir hatten uns nicht zu viel versprochen. Es ging durch die absolute Provinz! Entweder es gab lange Zeit gar keine Menschen, im Allgemeinen ist Bulgarien sehr dünn besiedelt, oder die Leute erweckten den Eindruck, als hätten sie noch nie andere Menschen gesehen, als ihre Nachbarn aus dem Dorf. Die Landschaft war wirklich malerisch schön. Am Rande der Berge mit immer wieder langgezogenen, kurvigen und berauschenden Abfahrten. Auf dem Weg sahen wir eine Menge Zigeuner, die die Felder bearbeitet haben. Teils passierten sie uns auch auf Pferdekutschen. Mehrere Tage lang sahen wir mehr Pferdekutschen als Autos. Vielleicht erklärt das auch zum Teil, warum die Autofahrer so mies fahren...? In den Bergen duschten wir mit eiskalten Bergwasser aus verrosteten Stahlrohren und schliefen auf einer Wiese zwischen wildernden Tieren.
Im allgemeinen ist Bulgarien ein sehr interessantes Land mit atemberaubenden Landschaften, von denen wir aus Zeitgründen aber relativ wenig gesehen haben. Die Menschen unterscheiden sich vom Aussehen her schon wieder deutlich zu den Serben. Deutlich slawischer, irgendwie russischer, sehen sie aus.
Zu unserer großen Überraschung trafen wir in der Provinz auf drei andere Fahrradfahrer. An ihrer Ausrüstung sah man sofort, dass sie auch lange unterwegs sein mussten. Wir hielten alle an und tauschten uns über Routen und Erfahrungen aus. Ihr Gruppenkopf ist auf einer 16-monatigen Fahrradreise von Brisbane nach Kopenhagen, um vor den Folgen der Klimaerwärmung zu warnen. Ein sehr interessantes Projekt mit einer klaren Vision. Unter anderem wird er auch über Berlin fahren. Auf dem Weg versucht er Leute zu begeistern, sich ihm anzuschließen und mit zum Klimagipfel nach Kopenhagen zu fahren. Wer mehr darüber wissen will, kann hier und auf seinem Blog weiterlesen.
Nach der schönen Stadt Plovdiv haben wir in Bulgarien nicht mehr so viel erlebt. Es ging über Schnellstraßen, die unterschiedlich viel befahren waren. Ich hab die Plattenstatistik noch ein bisschen hoch getrieben und die Anzahl der Flicken ausgereizt, was schon einmal zur absoluten Verzweiflung führte. Als wir der türkischen Grenze immer näher kamen, entschieden wir uns, noch einen Abstecher über Griechenland einzulegen. Dort erlebten wir in zwei Stunden ein weißes und sauberes Dorf wie aus dem Katalog und eine absolut militarisierte Grenze zur Türkei. Hier haben sich zwei Länder nicht sehr gerne...
Nach Bulgarien und Griechenland also die Ankunft in der Türkei. Lang erwartet von uns, stellte sie doch eine erste Ankunft dar. Der erste Tag in der Türkei war überwältigend. Nicht nur eine völlig neue Sprache nach 8 Wochen slawischen Sprachen, sondern eine ganz andere Begeisterung. Unsere Fahrt nach Edirne kam einer Triumphfahrt gleich, überall winkende und hupende Leute. Dies lag sicherlich zum Teil auch an dem Pappschild mit der Aufschrift "Berlin-Istanbul", das sich Leon hinten ans Fahrrad geklemmt hatte (siehe Foto). Diese Begeisterung sollte sich noch bis Istanbul durchziehen. Zum Teil lehnten sie sich sogar aus dem Auto, um Bilder von uns zu machen oder Videos zu drehen...
Edirne ist sehr interessant und schön und von Istanbul allemal einen Besuch wert. Wir hielten uns aber nicht mehr länger als nötig (eine Nacht) auf. Zu groß war die Ungeduld, bald in Istanbul anzukommen. Nur noch ca. 250 km, die sich lange hinzogen... Ein Gegenwind, wie wir ihn nicht einmal in Bosnien erlebten, machte die Fahrt von Edirne zu harter Arbeit. Sogar auf den Abfahrten mussten wir treten, um voranzukommen und erreichten auf diesen zum Teil nicht mehr als 17 km/h. Angesichts des starken Windes, der schlechten Straßen, der vielen Hügeln und vieler Kilometer nach Istanbul, wählten wir für den letzten Tag die Autobahn! Ein bis nach Istanbul breiter und perfekt ausgebauter Seitenstreifen und eine Fahrt wie im Rausch. Je näher wir Istanbul kamen, desto schneller fuhren wir. Am Ende wurde es fast zu einem Wettrennen, begleitet von unseren begeisterten Schreien... Von rechts ballerte wie immer die Sonne und von links rauschten die LKWs vorbei, was wir aber im Tunnelblick kaum noch noch wahrnahmen. Die Einfahrt nach Istanbul übertraf alle unsere Erwartungen (und Befürchtungen). Zu den drei Spuren auf jeder Seite kamen bei Zufahrten schon einmal zwei hinzu und die Masse an Autos ließ kaum noch eine Lücke zu. Irgendwann kletterten wir verzweifelt mit den Fahrrädern über die Leitplanken, was aber auch nicht viel brachte. Es gab keinen anderen Weg in die Stadt hinein als über die Autobahn. Das Chaos auf den Straßen war unübertroffen, eine Anarchie, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Zudem waren wir dieses Mal mit drei vollgepackten Fahrrädern mittendrin und mussten uns den Weg durch das Zentrum bahnen. Alleine dafür brauchten wir fast noch zwei Stunden! Eine urbane Achterbahnfahrt, die uns einiges mehr abforderte als Fahrrad fahren in Berlin. Auf den Straßen weiterhin begeisterte und interessierte Zusprüche, die uns gebührend feierten. Vielleicht hätten wir die ganze Zeit hier mit den Fahrrädern rumfahren sollen? Irgendwie schafften wir es bis nach Sisli in die WG von Lucie, wuchteten die Fahrräder auf die große Dachterrasse und erholten uns von Strapazen und überbordenden Impressionen...
Zwei Tage nach unserer Ankunft haben wir mit dem teuersten Essen unserer Reise (und unseres Lebens) uns selbst gefeiert und die Reise auch in den Köpfen abgeschlossen.

7 Kommentare:

  1. Toll, mal wieder etwas von euch zu hören (und zu sehen). Nur das Lesen der Karte wird seit Ankunft in der Türkei etwas schwierig. Meine Türkischkenntnisse sind etwas begrenzt. Die Einfahrt nach Istanbul scheint ja wirklich nicht unbedingt nachahmenswert. Also, in Berlin lieber nicht auf der Autobahn nach Neukölln fahren! Könnte unangenehm ausgehen. Wünsch euch noch schöne letzte Tage. Ingrid

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  2. ey wo ist das Brückenvideo?? irre was ihr so erlebt...

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  3. Wieder ein toller Bericht, der erneut eine Aufbruchstimmung auslöst......
    Findes es wirklich klasse, dass ihr ihr eure Reise durchgezogen habt; alle Achtung....
    Frage mich aber was Jan mit "... urbanen Reizen ... gemeint hat?????!!!!!
    Viel Spaß noch Jungs

    DaMaKa

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  4. das photo aliens ist genial. oder auch zeltausblick. so kann man sich eure verschiedenen stationen gut vorstellen. wo ist der film zu den lkw,s
    mi aus ka

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  5. die videos sind zum teil nach hinten gerutscht, einfach unten rechts auf ältere posts klicken.
    für die fahrt nach neukölln setzen wir uns auf jeden fall nochmal auf die räder. nach istanbul kann uns die hermannstraße nicht mehr schocken...:)

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  6. Hey guys!
    how r u doing? what's new since u left Istanbul? we are waiting for the pictures in Goethe-Institute.
    take care
    Laura&Elorri

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  7. Brieux et Sarah (les 2 français croisés et re-croisés en république tchèeque):

    Joli les gars, c'est marrant on rentre seulement en France... on retouve votre site et on voit que nous étions à Istanbul en même temps!!! Puis on est resté un mois dans le sud de la Turquie avant de rentrer en bus/bateau!!!
    Bravo à vous et voici notre site si vous êtes aussi curieux: http://brioux.e-monsite.com
    (merci de traduire aux autres:)

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