Mittwoch, 16. September 2009

Alltag raus, Kroatien rein, Kriegserfahrungen und Jans totale Destruktion Teil 2

Kroatien war das Urlaubsland! Ab Zagreb gab es nur noch wenige "alltaegliche" Tage. Einfach auch aus dem Grund, dass in Kroatien nichts mehr alltaeglich war. Viel zu viel Abwechslung und Impressionen, so dass am Abend der Kopf erst einmal schwer zu arbeiten hatte. Auf dem Balkan wurde das war, was ich auch schon vorher gehoert hatte. Die Landschaft veraendert sich alle paar Stunden (auf dem Fahrrad, versteht sich!) komplett.
Aber nochmal eins nach dem anderen...
Nach unserer letzten beschriebenen "Alltags"-Etappe nach Slunj geht es am naechsten Morgen in gewohnter Fruehe VOR dem Sonnenaufgang in Richtung Plitvicer Seen. Das Panorama ist ueberwaeltigend, mit einem gluehenden Feuerball ueber den nebligen Taelern. Leicht zermatscht kommen wir vormittags im Park an. Die ersten Schritte fallen wirklich schwer, das Laufen fast verlernt, greifen wir immer wieder zu unsrer Fahrradflasche... Der Park an sich ist ueberwaeltigend! Das Wasser kristallklar, so klar wie ich einen See noch nie gesehen hatte, und die Natur ueppig und gruen. Die himmelblauen Seen vor den Bergen ergeben ein praechtiges Bild. Kein Wunder, dass ausgerechnet hier Winnetou gedreht wurde...
Wir verbringen fast den ganzen Tag im Park und fahren am Abend erschoepft von ungewohnter Belastung in den naechsten Ort zum Essen. Dort treffen auf zwei radreisende Franzosen. Sie sind praktisch genauso ausgeruestet und unterwegs wie wir. Als wir am Abend gemeinsam in gewohnter Routine auf dem Feld unsere Zelte aufbauen, ist es, als wuerde man sich selbst im Spiegel sehen.
Am naechsten Morgen ist der Nebel absolut dicht und der Boden klatschnass vom Tau. Wir kriechen aus dem Zelt und brechen, nachdem Leon seinen am Vortag im Restaurant vergessenen Helm aus dem Muelleimer gefischt hat (!), zu der wohl aufregendsten Etappe der Reise auf... Innerhalb kurzer Zeit ist von morgendlicher Kuehle genauso wenig zu spueren wie von gruener, opulenter Natur. Es breitet sich vor uns eine weite und karge Steppe aus, die weit weg von den Bergen eingegrenzt wird. Gut kann man sich vorstellen, wie hier eine Horde Pferde entlang prischt... Schattenmoeglichkeiten gibt es kaum noch. Spaeter laeuft der Schweiss in Stroemen und man fuehlt sich fast wie in der Wueste. Die einzigen Menschen, die wir auf der Strecke sehen, sind die Verkaeufer lokaler Produkte, die alle 100 Meter ihre kleinen Staende aufgebaut haben. Dem Sonnenstich nahe kommen wir in der Mittagssonne in Gracac an. Mittagspause machen wir im Schatten einer zerstoerten Bushaltestelle. Die Stadt ist absolut gezeichnet von den Kriegszerstoerungen. Die ehemaligen Hotels haben geschlossen und verfallen in sich, an den Haeusern sieht man die Einschussloecher. Es herrscht absolute Tristesse. Wir unterhalten uns kurz mit einem Alkoholiker, der frueher eimal Sportlehrer war, und einem Jungen unseren Alters, der von seinen vielen Fluchten waehrend des Kriegs erzaehlt. Spaeter auf halber Hoehe des Anstiegs, der uns vom Meer trennt, stossen wir auf ein komplett ausgebranntes, ehemaliges UN-Haus. Nur noch die Buchstaben zeugen von der ehemaligen Nutzung. Gleich daneben haengt ein "Zu verkaufen"-Plakat. Ein groteskes Bild. Durch das Haus peitscht der Wind und erzeugt eine beklemmende Stimmung. Als wir uns spaeter oben am Berg befinden und den Blick ueber das Tal geniessen, sehen wir, wie alleine und von allen Seiten angreifbar das Haus steht.
Nach der berauschenden 20 km Abfahrt auf die andere Seite der Berge ist die Landschaft weiterhin karg und trocken. An der Seite der Strasse warnen Schilder vor Minenfeldern. Wir nehmen einen Fahrradweg in Richtung eines Sees, ein Auslaeufer des nahen Meeres, und fahren durch einzelne Doerfer mit alten Frauen und Huehnern, die einem das Gefuehl geben, ploetzlich entweder im letzten Jahrhundert oder weit entfernt in Afghanistan zu sein.
Am naechsten Tag erreichen wir endlich das ersehnte Meer. Auch in Zadar sind Kriegszerstoerungen allgegenwaertig. Wir kommen ueber Couchsurfing bei unglaublich netten Leuten unter. Die etwa 70 Jahre alten Eltern bekochen uns ohne Widerrede, als waeren wir ihre eigenen Kinder. Wir unterhalten uns in verschiedenen Sprachen und - fuer mich unerwartetes und persoenliches Highlight - erzaehlen dem Vater auf franzoesisch von den Freuden einer Fahrradreise.
Nachdem wir am naechsten Mittag zum Abschied einen halben selbstgebackenen Kuchen essen (und die andere Haelfte mitbekommen), starten wir in der abkuehlenden Abendsonne in Richtung Sueden. Wir machen Halt auf einem Campingplatz in einem absoluten Party- und Hotelressort (voellig unerwartet und ungeplant machen wir das Beste draus und schmeissen uns auch in die Party). Der naechste Tag ist wieder einmal unglaublich heiss. Wir leiden unter dem Restalkohol und der gnadenlosen Sonne und werden lediglich angetrieben von der Aussicht, am naechsten Morgen auf der Insel Hvar aufzuwachen. Kurz vor Split, wo sich der grosse Faehrhafen befindet, ergibt sich ein wunderbares Bild aus der ueber dem Meer untergehenden Sonne und den banlieuemaessigen Plattenbauten. Erst spaeter habe ich erfahren, dass Split auch eine schoene Altstadt besitzt.
Auf Hvar beginnt unser richtiger Urlaub, quasi ein Urlaub im Urlaub. Alltag raus, Kroatien rein! Die Seele baumeln lassen und mal ein paar Tage (am Ende ein knappe Woche) gar nichts machen... Wir geniessen den Abstand zu unseren Fahrraedern und die sportliche Abwechslung auf der Insel (schwimmen, wandern, klettern, segeln...).
Zum richtigen Zeitpunkt, als Regen im Anmarsch ist, fahren wir weiter. Ueber die Insel zurueck zum Festland, weg vom Meer und nach Bosnien. Die Landschaft ist ploetzlich, 20 km vor Bosnien, an der Meeresmuendung der Neretva, wahnsinnig fruchtbar. Es waechst so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann. Palmen, Schilf, Orangen, Aepfel, Pflaumen, Feigen, Wein etc... Wir versorgen uns unter den misstrauischen Blicken einer anwesenden Baeuerin mit Proviant und fahren nach Bosnien. Ein Land, das fuer mich sehr weit weg und nach Krieg klingt. Ein Land, das wahnsinnig unter den nationalistischen Bestrebungen von Kroaten und Serben gelitten und auch heute noch keine eigene Identitaet gefunden hat. Wir fahren durch den staerksten Gegenwind meines Lebens, so als wollte uns das Land zurueckweisen. Am Wegesrand gibt es ausser den ersten Moscheen nichts auffaelliges zu sehen. In Mostar erreichen wir unser Tagesziel. Man spuert den muslimischen Einfluss, es gibt Baklava und auf dem Basar orientalische Souvenirs zu kaufen. Das Wahrzeichen von Mostar (und Bosniens) ist die alte, unter osmanischer Herrschaft gebaute Bruecke ueber die Neretva. Unterhalb der Bruecke am Flussufer begutachten wir die professionellen Springer, noch im Unklaren darueber, dass von hier unsere Reise einen anderen Verlauf gehen sollte... Am Abend entscheiden wir mit jugendlichen Uebermut, auch am naechsten Morgen von der Bruecke zu springen. Bevor die Touristenscharen ankommenn, stehen wir bereits oben, mit dem Herz in der Hose. Bei Pascal und Leon geht mehr oder weniger alles gut, bei mir leider nur weniger. Der Aufprall auf dem Arsch fuehrt dazu, dass ich unter Schmerzen bis heute nicht ordentlich sitzen, geschweige denn lange Fahrrad fahren kann. Leon und Pascal fahren voraus und ich nehme zum ersten Mal auf der Reise notgedrungen den Zug nach Sarajevo. Hier habe ich leider ausser der Wohnung von Leons Eltern relativ wenig mitgenommen. Wirklich erstaunlich ist aber die enorme Menge an Moscheen in der Stadt. Wenn am Abend die Lichter ausgehen, sieht man ueberall in der Stadt verteilt die Lampen der Moscheetuerme. Im Kreise von Leons Familie erholen wir uns eine knappe Woche. Danach trennen sich erst einmal unsere Wege: Leon und Pascal nehmen den direkten Weg Richtung Osten nach Istanbul und ich nehme den Zug nach Belgrad. Hier kann ich mich weiter regenerieren, bis Fahrrad fahren wieder eine Option ist.
Waehrend also Leon und Pascal in Suedserbien bei Bauern uebernachten und von herumstreunenden Hunden ueberrascht werden, geniesse ich das Partyleben von Belgrad (so viel zu meiner Genesung...). Belgrad ist eine faszinierende Stadt. Die Haeuser sehen sehr sozialistisch aus, aber irgendwie praechtig. Zumindest im Zentrum nichts zu sehen von Marzahnplatte, sondern wirklich schoene sozialistische Fassaden. Die Stadt pulsiert und das Leben kennt keine Ruhe. Zu jeder Tageszeit trifft man Leute auf der Strasse, der Belgrader geht einfach gerne aus. Ueberhaupt haben sich Stereotype ueber den Serben nicht bewahrheitet. Die Menschen sind unglaublich offen, kommunikativ und hilfsbereit. Einzig die Vorbehalte gegenueber Kroaten oder Muslimen findet man bei bestimmten Leuten noch (Zitat eines Priesters auf der Strasse: "Ich mag alle Religionen, ausser die Muslime." Wir dachen, die Kroaten moege er nicht, weil sie Katholiken seien. "Nein nein, es gibt auch gute Katholiken. Aber die Kroaten haben 1941 eine Million Serben umgebracht...")
Es gefaellt mir so gut hier, dass ich den Aufenthalt schon einmal verlaengert habe. Morgen geht es trotzdem weiter, mit dem Zug runter zur bulgarischen Grenze, wo wir hoffentlich alle wieder zueinander finden...

4 Kommentare:

  1. So...Today the letter returned. I also got another one (that has absolutely nothing to do with Ida and me, or you), sent from Sarajevo, addressed to a Danish guy in the other end of Copenhagen...So strange and poetic. A bunch of people trying to get in touch with each other. Words travelling across Europe without reaching their destinations. Thoughts, jokes and best wishes not yet read by the special people they were meant for.

    How long are you staying in Istanbul and are you staying at a specific address? Would be cooler for you to get it in Istanbul than, say, when you're back in Berlin. Oder?

    Forbidden fruit, a burnt down UN house for sale, hot weather - and the priest on the street..? I wish I understood more German :-) And you're splitting up because you (Mr. Meulovic) are heading home?

    Take care and have lots of fun!

    Ida (Holm)

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  2. That's really interesting. Letters just getting back to you, maybe it is meant to be like this. We do have an address in Istanbul and I think it would be nice to try it again. Maybe you will get a second letter back from Istanbul as well?
    As soon as I know we send you an address.
    We split up because I couldn't cycle but we are meeting again tonight in Southern Serbia.
    Hugs and thanks very much for the efforts!

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  3. Perfect! Absolutely. We'll try again then.
    Struck by the postalsystem curse. Communicational karma or something like that. Yes..will be interesting so see...In that case I'd like a piece of the beautiful evening sky in Istanbul. In a really big letter.

    What a shame. The results of the totale Destruktion?

    Say hello to Pascal and Leon from us.

    Big hugs - and no worries. It's our pleasure :-)

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  4. richtig geile Tour die ihr da gemacht habt! Ich hoffe das euch Kroatien auch super gefallen hat!

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